Aufgrund der aktuellen Situation, und da wegen des Lockdowns das Reisen innerhalb von Kenia unterbunden wird, schicken viele Eltern ihre Kinder mit gutem Gewissen von der Stadt aufs Land, da die Ausbreitungsgefahr im ländlichen Gebiet nicht so hoch ist wie in der Millionenstadt Nairobi. Zudem erhoffen sich viele Eltern eine bessere Versorgung mit Grundnahrungsmitteln für ihre Kinder.
Doch dort, wo die Eltern glauben, dass es ihren Sprösslingen besser gehe, kommt es jedoch vermehrt zu sexuellen Übergriffen. Vielen ist nämlich nicht bewusst, dass es nicht in Ordnung ist, von Familienmitgliedern sexuell belästigt, bedrängt oder missbraucht zu werden. Das Gesundheitsministerium in Kenia hat eine Zunahme von sexueller Gewalt während der Pandemie um sieben Prozent, im Vergleich zu einem ähnlichen Zeitraum im Vorjahr, registriert. Mehr als 5000 Fälle von sexuellem Missbrauch sind bekannt, zudem wird eine hohe Dunkelziffer befürchtet. Minderjährige machen 70 Prozent der 5.000 zwischen März und Juni gemeldeten Vergewaltigungsfällen aus.
Vor allem sind junge Frauen Hauptbetroffene von diesen Strafdelikten. Vergewaltigungen können nicht nur mögliche Verbreiter von Geschlechtskrankheiten sein, sondern natürlich auch zu Schwangerschaften führen. Diverse Hilfsorganisationen gehen von einem starken Anstieg von Teenagerschwangerschaften aus, als unmittelbare Folge der Verbreitung des Coronavirus, nicht nur in Kenia. Die Vermutung liegt bei 380.000 Mädchen in einigen afrikanischen Ländern, die davon betroffen sind. In Nairobi wurden bereits 2.432 schwangere Mädchen unter 14 Jahren erfasst. Daraus resultiert wiederum, dass viele dieser Mädchen ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft verlieren, da sie meist nicht mehr zur Schule zurückkommen. Zudem sind sie mit Stigmatisierung konfrontiert, da sie als dreckig gelten, weil sie schon sehr jung Sex hatten. Frühe Mutterschaft hat zur Folge, dass der Kreislauf der Armut nicht durchbrochen werden kann. Damit sie dennoch überleben bzw. ihr(e) Kind(er) ernähren können, müssen sie sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt ertragen sowie die Abhängigkeit von einem Mann.
Dorothy Aseyo, Leiterin des „Kenya´s Women Voices and Leadership“- Projekts beschreibt die vorherrschende Situation damit, dass viele Kinder tagsüber unbeaufsichtigt sind und die Pandemie dazu beiträgt, dass die Familien unter sich in ihren Häusern und Wohnungen sind. So sind Täter*innen ungestört. Sie beschreibt dies jedoch nicht als einziges Problem, sondern nennt auch die Problematik, dass Kinder auch zum Einkommen der Familie beitragen müssen. Die große Verzweiflung kann damit gemessen werden, dass Mütter ihre Töchter für sexuelle Dienstleistungen anbieten, um auf diese Weise Geld für Nahrungsmittel für die Familie zu bekommen. Ein anderer Gedanke ist, dass Eltern ihre Kinder verlassen, da sie nicht mehr für sie sorgen können. Dies hat zur Folge, dass sich Kinder nun häufig selbst überlassen und somit äußerst vulnerabel sind.
Zum Schluss ist noch zu erwähnen, dass laut den Zahlen des kenianischen Gesundheitsministeriums etwa fünf Prozent der gemeldeten Vergewaltigungen an Jungen ausgeübt werden. Diese im Vergleich geringe Zahl ist damit begründet, dass in der kenianischen Kultur „der Mann“ stark zu sein hat und seine Familie versorgen muss. Diese Geschlechterrolle erlernen die Burschen bereits sehr früh, wollen keine Schwäche zeigen und leiden daher in Stille, bevor sie sich jemandem anvertrauen.
Dies zeigt auf, wie wichtig eine gute Auseinandersetzung mit dem Thema des sexuellen Missbrauches ist. Durch die Sensibilisierungsarbeit kann die Hemmschwelle sinken, um über gemachte Erfahrungen ohne Peinlichkeits- und Schamgefühl reden zu können. Wichtig hierbei ist, den Betroffenen zu vermitteln, dass sie nicht alleine mit ihrem Schicksal sind.
Foto: Nadja Wohlleben